Montag, 5. April 2010

Vorurteile

Sie schwänzt die Schule. Sie schreibt schlechte Noten. Sie schminkt sich viel zu stark. Sie ist immer halbnackt. Auch im Winter. Sie spricht die Sprache der Straße. Sie ist schadenfroh. Sie ist zu selbstbewusst. Sie hat ständig einen anderen Jungen. Sie findet sich selbst toll. Sie lacht, wenn man über sie lästert. Sie soll schon abgetrieben haben. Sie soll ihrer Freundin den Kerl ausgespannt haben. Sie ist eine Schlampe.

Das sagen sie. Das denke ich.
Weil ich sehe wie sie sich anzieht, wie sie sich schminkt und wie sie sich gibt.
Wir sind nicht so. Wir sind anständig. Wir sind brav. Keine Streber, aber auch nicht so extrem wie sie. Wir schwänzen nicht, wir ziehen uns anständig an. Vor allem in der Schule. Wir flirten mit den Jungs, aber wir machen sie nicht an. Wir sind die Guten. Sie ist die Schlampe. Nur nicht zu nahe kommen. Lieber aus der Ferne die Nase rümpfen und sich zuflüstern mit wem sie gestern wieder gesehen wurde.
Das sind wir. Das bin ich.

Dann die Studienfahrt. Rom. Zu den anderen ins Zimmer kann sie nicht. Auch Schlampen. Freund ausgespannt. Streit. Wir haben noch ein Bett frei. Wir wollen sie nicht bei uns haben, aber was bleibt uns schon anderes übrig? Seltsame Situation. Auf einmal ist sie uns so nah. Viel zu nah. Wir bleiben freundlich. Distanziert, aber höflich. Schließlich sind wir die Guten. Tagsüber kaum Kontakt, immer unterwegs. Städtebesichtigung. Kirchen und Plätze. La dolce vita.

Abends im Zimmer. Es wird ruhig. Wir reden. Über die Stadt, über morgen, das Hotel, die anderen, Jungs. Sie schweigt. Dann sage ich etwas eindeutig Zweideutiges, obwohl ich doch zu den Braven gehöre. Alle lachen. Sie auch. Auf einmal ist uns leichter ums Herz. Wir sind uns plötzlich näher gekommen. Dass wir solche Wörter überhaupt in den Mund nehmen, wundert sie. Auch, dass wir so locker und lustig sind. Gar nicht so steif, wie sie immer dachte. Und wir wundern uns darüber wie gezielt sie sich artikulieren kann. Ohne "Alter" und "Fuck". Annäherung. Die nächsten Abende werden immer besser. Sie erzählt von sich und auf einmal ist sie nicht mehr die Schlampe, sondern ein Mädchen wie wir. Ein Mädchen, das geliebt werden möchte, das leben will und das seinen Weg noch nicht gefunden hat. Sie bleibt anders. Aber nun nicht mehr schlechter. Freundschaft in Rom.

Aber daheim? Da ist sie wieder die Schlampe. Wir gehen nicht zu ihr, sie kommt nicht zu uns. Distanz. Aber anders. Sie lächelt uns freundlich zu, wir rümpfen nicht mehr die Nase. Die Welt ist ein bisschen besser geworden.

2 Kommentare:

  1. Lässt einen nachdenken, sowas.
    Aber ich glaub, soetwas erlebt man immer auf Studienfahrten/klassenfahrten.

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  2. Manchmal lernt man jemanden zu mögen, wenn man ihn einfach nur besser kennen lernt.

    Und manchmal passiert das Gegenteil.

    Aber Vorurteile bekommt man nie so schnell weg.

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